Leseschwäche schon in der Kita erkennen

neue strategiene gegen legasthenie

Lina hatte sich riesig auf die Schule gefreut. Schon im Kindergarten galt sie als Rechenmeisterin. Für Buchstaben interessierte sie sich dagegen nie. Manchmal fragte sie nach einem, vergaß ihn aber schnell oder malte ihn gerne mal seitenverkehrt aufs Papier. Sprache schien ohnehin nie wirklich ihr Thema zu sein. Beim Krabbeln, Laufen oder Sauberwerden war sie früh dran. Nur beim Sprechen lernen schien sie sich unendlich viel Zeit zu lassen.

Das Selbstbewusstsein leidet

In der Schule zeigen sich zuerst beim Lesen erste Probleme. Einzelne Buchstaben kann sie gerade noch entziffern, bei ganzen Wörtern scheitert sie. Beim Schreiben kommt sie mit den Schwüngen und der Form nicht zurecht. Sie gilt als die Langsamste und Unordentlichste. Die Lehrerin meint, Lina übe zu wenig. Aber die Eltern üben mit ihrem Kind jede freie Minute. Bald schon hat Lina die Lust verloren, verweigert sich, hält sich für zu dumm.

Heute verstehen die Eltern von Lina nicht, warum sie nicht sofort reagierten. „Wir dachten, dass bei Lina der Knoten irgendwann schon platzen würde“, erzählt die Mutter. Stattdessen begann eine jahrelange Leidensgeschichte, die erst ihr Ende fand, als ein Facharzt für Kinderpsychiatrie bei Lina eine Lese- und Rechtschreibschwäche (LRS) diagnostizierte.

Lina erhält eine Legasthenie-Therapie, in der sie nicht nur das Lesen und Schreiben, sondern auch das Selbstbewusstsein trainiert. Mittlerweile kann sie auch wieder lachen.

Warum wir Schwächen erst spät erkennen

Hätte es überhaupt so weit kommen müssen? Konnten die Erzieher im Kindergarten nicht schon feststellen, dass Lina gefährdet ist? Aber sie war ja völlig unauffällig – oder?

Bei genauer Betrachtung war Lina eben nicht unauffällig. Ihr später Spracherwerb, ihr Desinteresse an Buchstaben und der Umgang damit, waren klare Zeichen dafür, dass Lina ein gefährdetes Kind ist. Bei näherem Hinsehen hätten dies Fachärzte feststellen können.

Ist ein Kind aufgeweckt und in den meisten Bereichen normal entwickelt, übersehen oft viele Eltern und Erzieherinnen die Warnsignale oder es heißt eben „die kleine Lina ist so aufgeweckt. Da platzt der Knoten sicher bald“. Das passiert jedoch nur in den seltensten Fällen.

Legasthenie-Risiko erkennen

Seit Jahrzehnten erforscht die Psychologin Dr. Petra Küspert an der Universität Würzburg in zahlreichen Projekten die Voraussetzungen für Schulerfolg und die Prävention von Lernleistungsstörungen. „Engagierte Eltern und Erzieherinnen können eine Reihe von Hinweisen auf ein LRS- oder Legasthenie-Risiko bei einem Vorschuldkind entdecken“, schreibt Sie in ihrem Buch „Neue Strategien gegen Legasthenie“.

Um zu verstehen wie das geht, empfiehlt es sich, erst einmal die Fähigkeiten und Fertigkeiten anzusehen, die sich als bedeutendste Vorläufermerkmale des Schriftspacherwerbs erwiesen haben. Die pädagogisch-psychologische Forschung nennt dazu Intelligenz, frühe Schriftkenntnis, visuelle Aufmerksamkeit, Arbeits- und Langzeitgedächtnis und die phonologische Bewusstheit. Normale Intelligenz als Voraussetzung für den Schriftspracherwerb wird sicher niemand in Frage stellen. Bei der frühen Schriftkenntnis geht es laut Küspert nicht um die Menge der Buchstaben, die ein Kind schon bei der Einschulung kennt. „Es geht um das Verständnis des alphabetischen Prinzips. Es genügt, dass die Kinder schon einige Buchstaben sicher kennen – und damit bereits einen Einblick in die Schriftsprache und den engen Zusammenhang zwischen Lauten und Buchstaben gewonnen haben.“

Visuelle Aufmerksamkeit bedeutet, die Genauigkeit und Sicherheit, mit der Kinder visuelles Material verarbeiten. Auf Symbolebene bedeutet das etwa, den „Unterscheid zwischen den Buchstaben ,l’ und ,b’ darin zu entdecken, dass das ,b’ auf der einen Seite noch einen Bauch hat“, so die Psychologin.

Was heißt „phonologische Bewusstheit“

Dass wiederum ein gutes Gedächtnis Voraussetzung fürs Lernen ist, dürfte auch jedem klar sein. Beim Schreiben lernen kommt es darauf an, im Arbeitsgedächnis den Buchstaben Laute zuzuordnen,. Diese gilt es so lange zu behalten, bis aus allen Buchstaben ein Wort gebildet ist. Das Langzeitgedächtnis ist dazu da, um auf das bereits Erlernte dauerhaft sicher zurückgreifen zu können.

Große Bedeutung misst Küspert der phonologischen Bewusstheit zu. Dazu erläutert die Forscherin, dass „ein Kind phonologische Bewusstheit besitzt, wenn es ein Gespür für den Klang der gesprochenen Sprache entwickelt hat. So kann es beispielsweise reimen, Wörter in Silben zerlegen und schließlich sogar die einzelnen Laute innerhalb eines Wortes erkennen.“ Erste Vorstufen sind etwa, Reimwörter zu finden, Silben zu klatschen oder Sätze in Wörter zu zerlegen. Kann das ein Kindergartenkind mit etwa fünf Jahren noch nicht, heißt das zwar nicht, dass wir hier gleich einen Legastheniefall haben. Dennoch ist dies ein deutliches Warnsignal, dem Eltern und Erzieherinnen nachgehen sollten.

Eltern empfiehlt Küspert deshalb folgendes:

  • Achten Sie doch einmal ganz bewusst darauf, ob Ihr Vorschulkind mit dem Reimen klarkommt, ob es Silben klatschen kann.
  • Besprechen Sie mit der Erzieherin im Kindergarten, ob sich Ihr Kind mit entsprechenden Spielen (Gedichte lernen und aufsagen, Liedertexte einprägen, Mitklatschen) genauso freudig beschäftigt wie seine gleichaltrigen Kameraden in der Gruppe oder ob es solche Spiele zu meiden sucht, sich gern dabei ausklinkt.
  • Achten Sie darauf, ob Ihr Kind Farben oder Würfelbilder schnell benennen kann.
  • Wie steht es mit dem Gedächtnis Ihres Kindes? Kann es sich Sachen gut merken, auch wenn sie nicht hochinteressant für das Kind selbst sind? Kann es kurze Aufträge behalten – oder fordert es immer wieder Informationen nach, die Sie schon längst gegeben haben?

Wenn Sie feststellen, dass Ihr Kind sich im Vorschulalter in einem dieser Bereich schwertut, dann sollten Sie mit Ihrem Kind ein Frühdiagnosezentrum oder eine Frühförderstelle aufsuchen. Natürlich gibt es noch weitere Anzeichen wie Legastheniefälle in der Verwandtschaft oder Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung. Hätten Linas Eltern entsprechend reagiert, wäre ihr vermutlich ein langer Leidensweg erspart geblieben. Denn es gibt mittlerweile nicht nur eine Reihe spielerischer Tests, die eine LRS zuverlässig aufdecken, sondern auch Förderprogramme wie das „Würzburger Trainingsprogramm“, das von Petra Küspert und Wolfgang Schneider entwickelt wurde. Ein Programm für alle Kinder zur Vorbereitung auf die Schule, aber vor allem für gefährdete Kinder, die damit entsprechend aufholen können. Zudem hätten auch die Eltern viel dazu beitragen können, dass Lina durch verschiedene Spiele einen Einblick in der klang der Sprache erhält. Der Knoten platzt eben nicht einfach. Aber mit sorgfältiger Beobachtung und liebevoller, spielerischer Förderung lässt er sich Stück für Stück auflösen.

(Gernot Körner)

Legasthenie-cover

Küspert, Petra

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